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October 12, 1989

Assessment Paper by the Austrian Foreign Ministry, '[Excerpt] Eastern Europe; General Assessment'

Osteuropa; allgemeine Lagebeurteilung

 

Der derzeitige gesellschaftspolitische Prozess in den reformorientierten Ländern Osteuropas ist ohne Übertreibung als einmalig zu bezeichnen: Durch eine simultan sowohl in der Sowjetunion, als dem bisherigen kommunistischen Machtzentrum, als auch in Ungarn und Polen mit überraschender Entschlossenheit vorangetriebene Reform ergibt sich erstmalig die reale Chance einer Umwandlung des bisherigen diktatorischen, auf dem alleinigen Machtanspruch der kommunistischen Partei fußenden Regierungssystems in ein auf demokratischen Spielregeln aufbauendes Gesellschaftssystem, in dem Menschenrechte und Grundrechte geachtet werden.

Zugleich ist in anderen osteuropäischen Staaten (mit Abstufungen) derzeit Widerstand gegen diesen gesellschaftspolitischen Trend zu verzeichnen. Aus diesen unterschiedlichen Entwicklungen resultiert eine deutliche Diversifikation und Differenzierung innerhalb des früher weitgehend monolithischen „Ostblocks“.

Überlegungen darüber in welche Richtung die Entwicklung in Osteuropa in den kommenden Jahren gehen wird, haben notwendigerweise weitgehend spekulativen Charakter:

- Denkbar ist sowohl ein dann auch für den osteuropäischen „Durchschnittsbürger“ in Form einer Verbesserung des materiellen Lebensstandards spür- und erfahrbarer Erfolg des Reformkurs in der SU, Ungarn und Polen begleitet von einer weitgehenden Absicherung des demokratischen Weges. Von einem solchen Erfolg könnten sich dann wohl die anderen osteuropäischen Staaten nicht auf Dauer abkapseln.

- Es können aber auch ernste Rückschläge in diesen Reformbemühungen wegen der Größe der Aufgabe der Umgestaltung von seit Jahrzehnten erstarrten unrationellen Wirtschaftsprozessen, einem möglichen Überhandnehmen zentrifugaler, separatistischer Tendenzen etc. nicht ausgeschlossen werden.

Für Österreich (und die gesamte westliche Welt) kann es daher nur darum gehen, die Reformprozesse – wo immer sie sich manifestieren – deutlich zu unterstützen und sich zugleich des Umstandes bewusst zu bleiben, dass, wie bereits erwähnt, Rückschläge – auch gravierender Natur – möglich sind.

[…][1]

 

DDR; Einschätzung der politischen Lage

12. Oktober 1989

Die Staats- und Parteiführung der DDR hat seit Beginn der Ära Gorbatschow in der Sowjetunion jeden Reformbedarf unter Hinweis auf ihre eigene „Fortschrittlichkeit“ bestritten. Sie konnte sich dabei auf die im Vergleich zu anderen Warschauer Pakt-Staaten relativ günstige Wirtschaftssituation stützen. Hinzu kam die kontinuierliche Intensivierung der pragmatischen Zusammenarbeit mit der BRD jenseits der öffentlichen Rhetorik.

Das nachlassende Wirtschaftswachstum, das das ideologische Axiom der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zunehmend in Frage stellt, die immer offensichtlicher notwendige Generationenablöse an der Parteispitze und die Attraktivität der Reformpolitik in einzelnen Paktstaaten (v.a. Polen und Ungarn), deren Entwicklung über das BRD-Fernsehen weiten Teilen der Bevölkerung ins Haus geliefert wird, haben innerhalb der SED offenbar schon vor einigen Monaten zu der Erkenntnis geführt, dass eine flexiblere Antwort gefunden werden muss. Man begnügte sich allerdings mit dem Versuch, den Status quo „gefälliger zu verpacken“ („Sozialismus in den Farben der DDR“).

Die Veröffentlichungen der DDR-Medien in den letzten Monaten lassen den Schluss zu, dass durch die frühzeitige Festlegung des Termins für den SED-Parteitag (Mai 1990)[2] und die Eröffnung der Inhaltsdiskussion (die bisher in den gewohnten Bahnen verlief) in erster Linie auf Zeitgewinn für eine reibungslose Abwicklung der 40-Jahr-Feiern am 7.10.1989 gesetzt wurde. Dieses Kalkül ist nur beschränkt aufgegangen.

Im Gefolge der ungarischen Entscheidung, ausreisewilligen DDR-Bürgern die Weiterreise über Österreich in die BRD zu gestatten, bekam die Fluchtbewegung eine starke Eigendynamik. Die illegale Ausreise von 50.000 Menschen innerhalb von fünf Wochen brachte einen Erklärungsbedarf für die DDR-Führung, der angesichts des Überwiegens junger, also in der DDR aufgewachsener Menschen, einer Bankrotterklärung des Systems gleichkam.

Das eindrucksvolle Auftreten einer wohl nur lose organisierten, aber einer erneuerten DDR als eigenen Staat durchaus nicht negativ gegenüberstehenden, reformorientierten Opposition in allen größeren Städten gepaart mit der demonstrativen Anlehnung an das Beispiel Gorbatschow hat die Notwendigkeit der Aufgabe des Stehsatzes von fehlenden Reformbedarf nachdrücklich unterstrichen.

Beide Phänomene (Fluchtbewegung und aktiveres Auftreten von Oppositionsgruppen als vielfach erwartet) haben erstaunlich rasch zu wenigstens beschränkter Dialogbereitschaft auf mittlerer Parteiebene geführt.

Derzeit kann noch nicht abgeschätzt werden, wie weit die Dialogbereitschaft der SED-Führung selbst reichen wird. Es ist nicht auszuschließen, dass einige einflussreiche Politbüromitglieder, die wenigstens ihre Machtpositionen erhalten wollen, den Rücktritt Honeckers und eine flexiblere Handhabung der Reismöglichkeiten, allenfalls verbunden mit größerer Meinungsfreiheit, für ausreichend halten. Das Beispiel anderer WP[3]-Staaten (v.a. Ungarn, Aufstieg und Fall von USAP-GS[4] Károly Grósz)[5] zeigt jedoch, das Teilreformen im politischen Bereich relativ leicht „außer Kontrolle“ geraten können.

Auf Grund der Schlüsselposition der DDR im WP würde auch eine reformorientierte DDR – selbst bei in absehbarer Zeit nicht zu erwartender Entwicklung zu einem pluralistischen Rechtsstaat – nicht an der Paktmitgliedschaft rütteln können und schon deshalb als eigener Staat bestehen bleiben. Die Absicherung der staatlichen Identität hängt jedoch davon ab, ob es zu ausreichend tiefgreifenden Reformen kommt. Die Haltung der Oppositionsgruppen lässt eine solche Entwicklung durchaus nicht ausgeschlossen erscheinen.

[…][6]

 

 

 

[1] Ausgelassen wurden die Lagebeurteilungen zur Sowjetunion, der ČSSR, Bulgarien, Rumänien, Albanien und Polen.

[2] Der SED-Parteitag sollte vom 15. bis 19. Mai 1990 abgehalten werden.

[3] Warschauer Pakt.

[4] Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei.

[5] Károly Grósz wurde am 25. Juni 1987 zum Ministerpräsidenten der Volksrepublik Ungarn ernannt. Am 22. Mai 1988 folgte er János Kádár auf den Posten des Generalsekretärs der MSZMP nach. Der Vorsitz des Ministerrates ging am 24. November 1988 auf Miklós Németh über. Damit waren die Ämter des Partei- und Regierungschef wieder formal getrennt. Németh befürwortet einen gesellschaftlichen Wandel und wirtschaftliche Reformen. Ab November 1988 kamen immer mehr Stimmen innerhalb der MSZMP auf, die eine Umgestaltung zu einem Mehrparteiensystem in Erwägung zogen. Auch Grósz erwog die Möglichkeit eines neuen Parteisystems, dachte jedoch nur daran „sozialistisch“ ausgerichtete Parteien zu legalisieren. Innerhalb der MSZMP formierte sich in weitere Folge ein Reformflügel, der den Übergang zu einem kompetitiven Mehrparteiensystem befürwortete. Die Entwicklung gipfelte in der Entmachtung von Grósz und einer Reform des Sozialismus in Ungarn, vgl. Andreas Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns von 1985 bis 2002. Von der liberalisierten Einparteienherrschaft zur Demokratie in der Konsolidierungsphase, (München: Oldenbourg, 2007), 98–107.

[6] Ausgelassen wurden die Lagebeurteilungen zu Ungarn und Jugoslawien.

[Excerpt] Eastern Europe; General Assessment

The current socio-political process in the reformist Eastern European countries can, without exaggeration, be described as unique: Simultaneously the Soviet Union, the previous communist power center, as well as Hungary and Poland are promoting reform with surprising determination. Thereof arises the first real chance to transform the previously dictatorial government system based on the communist party’s sole claim to power, and turn it into a societal system based on democratic rules in which human and fundamental rights are respected.

At the same time in other Eastern European countries, resistance (of various degrees) to this socio-political trend is currently noticeable. These different developments are resulting in a considerable diversification and differentiation within the hitherto largely monolithic “Eastern Bloc.”

Considerations about the direction in which Eastern Europe will develop in the coming years are necessarily speculative for the most part:

- Conceivable would be a perceptible and experienceable improvement in the material standard of living for the “average citizen” of Eastern Europe due to the success of the reforms in the Soviet Union, Hungary and Poland accompanied by an extensive safeguarding of the democratic path. In the long run, the other Eastern European countries would not be able to isolate themselves from such success.

- Serious setbacks in these reform efforts cannot be ruled out because of the magnitude of the task of transforming decades old, moribund and inefficient economic processes as well as the possible prevalence of centrifugal, separatist tendencies, etc.

For Austria (and the entire Western world) it is of utmost importance to significantly support the reform processes – wherever they manifest themselves – and at the same time remain aware that, as mentioned before, setbacks – also those of a serious nature – are possible.

[…][1]

 

GDR; Assessment of the current political situation

12 October 1989

Since the beginning of the Gorbachev era in the Soviet Union, the state and party leaders of the GDR have denied every need for reform with reference to their own “progressiveness.” In comparison to other Warsaw Pact states they could draw upon their relatively favorable economic situation for support. Added to this was the continuous strengthening of pragmatic cooperation with the FRG that went beyond public rhetoric.

The slowing down of economic growth, increasingly calls the ideological axiom of “unity of economic and social policy” into question, and there is an ever more obvious need for generational change in the party leadership. Already a few months ago, this and the attractiveness of the reform policy in individual [Warsaw] Pact countries (especially Poland and Hungary) which has been broadcast into the homes of most of the population via FRG-Television, has created awareness in the SED[2] that a more flexible response needs to be found. However, they contented themselves with trying to “more pleasingly package” the status quo (“Socialism in the colors of the GDR”).

The publications of the East German media in recent months suggest that the early determination of the date for the SED party convention (May 1990)[3] and the opening of the content discussion (which previously went down the habitual way) was primarily set to gain time for a smooth completion of the 40-year celebrations on 7.10.1989. This calculus bore only limited fruit.

In the wake of the Hungarian decision to allow GDR citizens to emigrate via Austria to West Germany, the exodus gained a strong momentum. The illegal emigration of 50,000 people within five weeks brought the GDR leadership in need of an explanation. The preponderance of young people among them, raised in the GDR, was a declaration of bankruptcy of the system.

The impressive appearance of a probably only loosely organized reformist opposition in all major cities, not opposing an independent and renewed GDR and demonstratively leaning toward Gorbachev’s example has strongly emphasized the need to abandon the denial of need for reform.

Both phenomena (The exodus, and a more active presence of opposition groups than many had expected) have lead remarkably quickly to at least a limited readiness for dialogue at middle-party level.

Currently it cannot be estimated how far the SED leadership’s readiness for dialogue will go. It can not be excluded that some influential members of the Politburo, who wish to retain their positions of power, will deem sufficient the resignation of Honecker, the more flexible handling of travel possibilities, and the possibility of greater freedom of expression. The example of other Warsaw Pact countries (especially Hungary, the rise and fall of General Secretary Károly Grósz of the Hungarian Socialist Worker’s Party)[4] shows, however, how partial reforms in the political sphere can relatively easily get “out of control.”

Due to the key position of the GDR in the Warsaw Pact also a reform-oriented GDR – even in the case of a not expectable development into a pluralistic constitutional state in the foreseeable future – would not shake the pact membership and will already therefore remain a separate state. However, the protection of state identity depends on whether sufficiently deep reforms come. The attitude of the opposition groups makes it seem that such a development can not necessarily be excluded.

[…][5]

 

[1] Omitted were the situational assessments of the Soviet Union, Czechoslovakia, Bulgaria, Romania, Albania, and Poland.

[2]Sozialistische Einheitspartei Deutschland (Socialist Unity Party of Germany).

[3] The SED party convention was scheduled for 15 to 19 May 1990.

[4] Károly Grósz was appointed Prime Minister of the People’s Republic of Hungary on 25 June 1987. On 22 May 1988, he succeeded János Kádár to the post of Secretary General of the HSWP. On 24 November 1988 Miklós Németh succeeded him as prime minister. Thus, the offices of the party and government head were separated again. Németh advocated societal change and economic reforms. From November 1988, more and more voices were raised within the HSWP, which considered making a transformation to a multiparty political system. Grósz too considered the possibility of a new party system, but thought only to legalize parties in line with “socialism.” Within the HSWP the creation of a reform wing began, which supported the transition to a competitive multi-party system. The development culminated in the overthrow of Grósz and a reform of socialism in Hungary. See Andreas Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns von 1985 bis 2002. Von der liberalisierten Einparteienherrschaft zur Demokratie in der Konsolidierungsphase [= Political History of Hungary from 1985 to 2002. From liberalized party rule to democracy in the consolidation phase] (Munich: Oldenbourg, 2007), 98–107.

[5] Omitted were situational assessments on Hungary and Yugoslavia.

The Assessment Paper outlines new change is Eastern Europe, mostly surrounding political and economic diversification, following Gorabachev's leadership in the USSR. The report then evaluates the GDR's economy, emigration, and anticipated political changes in light of the new geopolitical climate.

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Document Information

Source

ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1989, GZ.713/24-II.3/89. Obtained and translated by Michael Gehler and Maximilian Graf.

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Original Uploaded Date

2017-10-11

Type

Report

Language

Record ID

165712