December 20, 1991
The Chancellor's [Helmut Kohl's] Conversation with President Mikhail S. Gorbachev, Friday, 20 December 1991, 09.30 - 09.40 Hours
Gruppenleiter 21 Bonn, den 20. Dezember 1991
V e r m e r k
Betr.: Gespräch des Herrn Bundeskanzlers mit Präsident Michail S. Gorbatschow Freitag, 20. Dezember 1991, 09.30 - 09.40 Uhr[1]
Nach freundschaftlicher Begrüßung fragt der Bundeskanzler, wie die Dinge derzeit in Moskau stehen.
Präsident Gorbatschow (G.) erwidert, die gegenwärtige Lage sei äußerst schwierig - nicht so sehr was ihn persönlich, sondern vor allem was das Land angehe. Er müsse jetzt aus einer Situation heraus handeln, die ihm faktisch diktiert werde und in der er alle politischen Ambitionen zurückstellen müsse.
Umso mehr konzentriere er sich in diesen Tagen darauf, alles ihm Mögliche zu unternehmen, damit der jetzt laufende Prozeß, eine neue Staatengemeinschaft zu bilden, zu einem lebensfähigen Staatswesen führen werde.
Der Bundeskanzler wirft ein, ob G. glaube, daß dies funktionieren werde.
G. antwortet, er selbst bleibe der Idee treu, das neue Staatsgebilde durch einen Unionsvertrag ins Leben zu rufen - aber er stelle diese Absicht zurück.
Er habe aber, nachdem die Republiken nun den von ihnen gewählten Weg gingen, die Teilnehmer am bevorstehenden Treffen in Alma Ata in einer schriftlichen Botschaft darauf hingewiesen, was geschehen müsse, damit das zu bildende Staatswesen lebensfähig sei: Dabei gehe es sowohl um die Prinzipien als auch die Institutionen und nicht zuletzt um den geordneten Übergang von der Union zur neuen Staatengemeinschaft.
Das Land brauche zur Zeit nichts so sehr wie die Eintracht zwischen den Republiken - sonst gleite das Land in eine Katastrophe ab. Deshalb betone er in der Botschaft an die Republikspräsidenten, daß der Wirtschaftsvertrag, der ja bereits von allen Teilnehmern paraphiert sei, in die Wirklichkeit umgesetzt werden müsse.
Ferner müsse die effektive Kontrolle und einheitliche Führung der strategischen Streitkräfte unbedingt gewährleitet sein.
Auch müsse darüber entschieden werden, wie die neue Staatengemeinschaft zu einem Völkerrechtssubjekt werde.
Schließlich - und für ihn am wichtigsten - sei die Frage, wie die Lage der Menschen, der Bürger in dieser Staatengemeinschaft sein solle. Tatsächlich verstünden die meisten seiner Landsleute den Unterschied zwischen dem jetzigen Zustand und dem künftigen noch nicht. Sie begriffen sich heute als Bürger eines Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie hätten. Wie werde es aber aussehen, wenn die Leute in einem Dutzend Staaten leben würden - wie seien dann ihre Rechte hinsichtlich der Wahl des Wohnsitzes und des Arbeitsplatzes, wie stehe es mit ihren Rentenansprüchen und mit ihrer Freizügigkeit?
Im Abkommen von Minsk - so G. weiter - hätten die drei Republiken zwar niedergelegt, daß die Grenzen offen bleiben und die Freizügigkeit der Menschen gewährleistet sein werde. Aber bereits jetzt habe die Ukraine gesagt, daß die Grenzen nur zu "Kontakten zwischen den Menschen" offen sein sollten und alle Fragen der Freizügigkeit sich nach neuen, noch zu erlassenden Normen richten würden.
Dies alles sei den Menschen nicht bewußt: Sie glaubten vielmehr, daß die neue Staatengemeinschaft zur Einheit führen werde - wahr sei aber das Gegenteil!
Gerade um die Menschen über die Lage zu informieren, habe er seine Botschaft an die Republikspräsidenten auch in der Presse veröffentlichen lassen.
Der Bundeskanzler fragt, was G. selbst tun werde.
G.antwortet, seine Haltung sei klar: Wenn die Teilnehmer des Treffens in Alma Ata die neue Staatengemeinschaft beschließen und die Teilnehmerstaaten diesen Beschluß ratifizieren, dann werde er zurücktreten und dies auch nicht auf die lange Bank schieben. Er sage vor dem ganzen Land und der ganzen Welt und auch dem Bundeskanzler persönlich, falls der Prozeß nicht auf die Bildung eines einheitlichen Unionsstaates hinziele, sondern eher umgekehrt, dann werde er an diesem Prozeß nicht teilnehmen.
Der Bundeskanzler fragt erneut, was G. dann tun werde.
G.erwidert, er werde eine öffentliche Tätigkeit übernehmen. Auf weitere Frage des Bundeskanzlers, ob dies eine politische Tätigkeit sein werde, führt G. aus, daß er eher von gesellschaftlicher Tätigkeit spreche. Jelzin habe ihm gegenüber die Sorge geäußert, daß er - G. - die Opposition leiten werde. Er habe darauf geantwortet, so lange Jelzin den demokratischen Weg weitergehe und die Reformen vorantreibe, könne er mit seiner Unterstützung rechnen - und Jelzin habe ihm versprochen, diesen Weg weiterzugehen.
Er jedenfalls werde seine (Rücktritts-)Entscheidung auf der Grundlage seiner unveränderten grundsätzlichen Haltung treffen: Denn er sei nach wie vor der Meinung, daß das Land aus dieser schwersten Krise der Geschichte nur herausgeführt werden könne, wenn es in einer Union, in einer Einheit zusammenbleibe. Anders werde es nicht möglich sein. Die Gesellschaft sei im Augenblick derart angespannt, daß eine Art Zerstückelung die Dinge noch verschärfen werde.
Der Bundeskanzler dankt für diese Offenheit und vereinbart, Anfang Januar wieder anzurufen. Was auch immer kommen werde, die Deutschen - und er persönlich - würden nie vergessen, was G. für sie getan habe.
G. dankt für diese Worte. Ähnliche Äußerungen habe er schon von einer Reihe ausländischer Partner gehört. Er habe - offen gesagt - auch bereits eine Reihe von Einladungen in die USA, nach England und nach Frankreich erhalten, um dort "gesellschaftliche Arbeit" zu übernehmen - er werde aber jedenfalls im Lande bleiben. Über seine weiteren Pläne wolle er den Bundeskanzler später unterrichten.
G. stellt dann selbst die Frage, warum er nicht schon jetzt zurücktrete: Er tue es deshalb nicht, weil es ihm um die Sache seines Landes gehe. Gerade in der jetzigen Situation müsse er alles in seinen Kräften stehende tun, damit der Prozeß verfassungskonform verlaufe und das neu entstehende Staatsgebilde lebensfähig sein werde - und keine Totgeburt.
Bei all seinen kritischen Vorbehalten gegenüber dem Weg, den die Republiken jetzt beschreiten, wolle er wenigstens dazu beitragen, daß dabei die bereits erreichten Erneuerungen und Reformen in der Gesellschaft nicht begraben würden. Zu viel stehe auf dem Spiel, was man hier im Lande, in Europa und in der Welt gemeinsam erreicht habe.
Der Bundeskanzler bekräftigt dies und wünscht G. in diesen Tagen besonders viel Glück.
Das Gespräch endet mit dem Austausch herzlicher Wünsche zum Jahreswechsel.
(Dr. Kaestner)
[1] BArch, B 136/59747, 125-128.
[Editor’s note: This document was also published, in the German original, in Andreas Wirsching, Hélène Miard-Delacroix, and Gregor Schöllgen, eds., Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1991 (Berlin; Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2022), https://doi.org/10.1515/9783110762204.]
Head of Division 21
Bonn, 20 December 1991
M e m o r a n d u m
Subject: The Chancellor's Conversation with President Mikhail S. Gorbachev, Friday, 20 December 1991, 09.30 - 09.40 Hours[1]
After a friendly welcome, the Chancellor asks how things were going in Moscow.
President Gorbachev (G.) says that the current situation was very difficult – not as much so with regards to himself but for the country. He now had to operate within the confines of a situation that had been dictated to him and that required him to put all political ambitions aside.
Thus, these days he tried to do everything possible to help the evolving process of building the new confederation of states and to make it successful.
The Chancellor queries whether G. thought it would function.
G. replies that he himself stuck to his idea to establish the new union state through a union treaty – but he would set this intention aside. Since the Republics were going down the path they had chosen, he had written a message reminding the participants of the Alma Ata meeting what had to be done to form a viable new state system: This entailed both principles and institutions, and, last but not least, the orderly transition from a union to a new confederation of states.
The country primarily needed solidarity between the Republics. Otherwise, the country would drift into catastrophe. Thus, he conveyed this message to the presidents of the Republics in order to demand the implementation of the economic treaty that had already been ratified by all participants. Moreover, one had to guarantee the effective control and the unified command of the strategic forces. Additionally, one had to decide how the new confederation of states would become a subject of international law.
Finally – and this was the most important question for himself – was the question of the situation of the people in this new confederation of states. In fact, most of his countrymen had not yet understood the difference between the current situation and the future constellation. They saw themselves as citizens of the country whose citizenship they had. But how would things develop if they lived in a dozen of new states? What would be their rights with regards to the choice of their residence and their workplace? What about their pension entitlements and their freedom to move?
G. continues saying that, although three Republics had used the Minsk Accord for the stipulation of open borders and freedom of movement, Ukraine had already said that frontiers should merely remain open for "contacts between people," arguing that the freedom to move had to be guided by new norms that still had to be determined.
All of this was not appreciated by the people. Rather, they believed that the new confederation of states would lead toward unity – however, the opposite was true!
In order to inform the people about the true situation, he had published his message to the presidents of the Republics in the press.
The Chancellor asks what G. would do himself.
G. says his position was clear. He would not hesitate to resign if the participants of the Alma Ata meeting took the decision for the establishment of the new confederation and the participating states ratified this decision. He told the Chancellor personally and the entire world that he did not want to participate in the process if it was not directed at the establishment of a unified confederation, but rather to the opposite.
The Chancellor asks again what G. would do in this case.
G.responds that he would assume a public position. Upon the Chancellor’s further inquiry as to whether this would be a political job, G. said it would instead be a societal position. Yeltsin had already told him of his concerns that he – G. – would lead the opposition. His response had been that Yeltsin could count on his support as long as he continued the democratic path, pursuing reforms. Yeltsin had pledged to continue this path.
He would make the decision of his resignation based on his firm and unchanged fundamental posture: He was still convinced that the country could only be led out of the most severe crisis of its history if it stayed together in a union. There was no other way. Currently, society was so distressed. A new sort of disintegration would only aggravate this.
The Chancellor appreciates G.‘s openness and pledges to call again in January. Whatever happened, the Germans and he himself would never forget what G. had done for them.
G. appreciates these words. He had heard similar statements from a number of other foreign partners. Frankly, he had already obtained invitations from the USA, Great Britain, and France in order to pursue "societal work,” but in any case, he would stay in the country. He would inform the Chancellor on his plans at some point later.
G. then asks himself why he was not already resigning: He did not do it because this was about the country’s issues. Against the backdrop of the current situation, he had to do everything in his power to ensure that the process was constitutional and that the newly established state structure was viable – and no stillbirth. Despite all his critical reservation toward the path the Republics were now taking, he wanted to contribute to an attempt to ensure that the changes and reforms in society would not be buried. Too much was at stake. We had achieved this together in the country, in Europe, and in the world.
The Chancellor affirms this, wishing G. good luck in these days.
The conversation concludes with the exchange of good wishes for the new year.
(Dr. Kaestner)
[1] BArch, B 136/59747, 125-128.
Kohl and Gorbachev look into the situation on the eve of the Soviet Union's disintegration.
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